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Befreien

Als verbeamtete Lehrerin habe ich folgenden Diensteid abgelegt:

„Ich schwöre, dass ich das mir übertragene Amt nach bestem
Wissen und Können verwalten, Verfassung und Gesetze befolgen
und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und
Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott
helfe.“


Das tägliche Erleben im Schuldienst zwingt mich dazu, darüber
nachzudenken, ob und wie ich diesem Eid gerecht werden kann:

Ich möchte zwei Punkte herausgreifen:

1. die "Verfassung und Gesetze befolgen und verteidigen"

In der Verordnung des Kultusministeriums über die Notenbildung
steht:
"Als Kontrolle des Lernfortschritts soll sie Lehrern, Schülern,
Erziehungsberechtigten und ggf. den für die Berufserziehung der
Schüler Mitverantwortlichen den erzielten Erfolg bestätigen, ihnen
Hinweise für den weiteren Lernfortgang geben und damit die
Motivation des Schülers fördern."

(Notenbildungsverordnung BW vom 5. Mai 1983, letzte berücksichtigte Änderung: 27. Juni 2018)

Dass schlechte Noten die Motivation eines Kindes fördern, konnte ich bisher nur in seltenen Ausnahmefällen (und bei eher leistungsstarken Kindern) beobachten. 

Viel öfter erlebe ich, dass sich Kinder mit einem ohnehin geringen Selbstwertgefühl in ihrer Annahme bestätigt fühlen: nichts wert zu sein. 

Noten beschreiben ANGEBLICH messbare Leistung.

Leistung ist der Quotient aus Arbeit und Zeit.

Noten geben Ergebnisse wieder, sagen aber nichts aus über den Weg und die Kraft, die nötig waren, um dahin zu kommen.

Ein Beispiel: Meine Nachbarin und ich wiegen gleich viel: 80 kg.

Meine Nachbarin wog vor einem halben Jahr noch 117 kg.

Sie hat ihre Ernährung umgestellt und eisern Sport gemacht. 

Jeden Tag.

Ich wog vor einem halben Jahr noch 72 kg.

Ich habe mich vorwiegend von Süßkram ernährt und lag faul auf dem Sofa rum.

Jeden Tag.

Wir beide haben das gleiche Gewicht - also das gleiche Ergebnis - also die gleiche Leistung?!

Maike Plath beschreibt treffend  die „Goldmariechen“ unter den Schülern und die „Unsichtbaren“. Besser kann man die Ungerechtigkeit unseres Schulsystems nicht darstellen. 

(https://www.maikeplath.de/blog/liebeserklaerung-an-die-aelteren-weissen-maenner)

Wir belohnen die, denen es ohnehin leicht fällt zu lernen - und hauen denen, die stolpern, straucheln und sich berappeln wollen, Knüppel (sorry, objektive Noten) zwischen die Beine.

Ich versuche tagtäglich, das Selbstbewusstsein meiner Schülerinnen und Schüler aufzupäppeln, ihren Glauben an sich selbst zu stärken, ihnen Mut zu machen. Und dann muss ich ihnen Noten geben. 

Meine Aufgabe ist es, Kinder stark zu machen. Das geht natürlich nicht, indem ich sie mit ungerechtfertigt guten Noten verhätschele. Aber es geht auch nicht, indem ich sie scheinbar objektiv mit anderen vergleiche.

Ja, Noten sind Vergleichswerte.

Aber würde es Sie, liebe Leserin, lieber Leser, anspornen, täglich zu hören: „Dein Nachbar ist aber viel schlanker und sportlicher als du!“ oder „Deine Kollegin hat ihre Klasse aber besser im Griff als du!“?

Individueller Lernfortschritt ist in Noten nicht auszudrücken.

Die Pflicht zur Notengebung erscheint mir daher nicht vereinbar mit Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes "Die Würde des Menschen ist unantastbar".

2. "Gerechtigkeit gegen jedermann üben":

Die bekannte Karikatur von Hans Traxler zur Chancengleichheit wird seit 1975 (seit 45 Jahren!?!) gern im Pädagogikstudium eingesetzt.

Ein Elefant, ein Goldfisch, ein Affe und andere Tiere erhalten vom Lehrer alle die gleiche Aufgabe: 
"Zum Ziele einer gerechten Auslese lautet die Prüfungsaufgabe für alle gleich: Klettern Sie auf den Baum!"

Was ist gerecht?
"Die Grundbedingung dafür, dass ein menschliches Verhalten als gerecht gilt, ist, dass Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt wird."
(https://de.wikipedia.org/wiki/Gerechtigkeit)

Ich bin sehr froh, dass sich das deutsche Schulsystem in den letzten Jahren geöffnet hat - hin zu Integration und Inklusion.

Das bedeutet aber auch, dass mit den Mitteln des 19. Jahrhunderts die Aufgaben des 21. Jahrhunderts nicht gelöst werden können:

Maike Plath, Theaterpädagogin und Hochschuldozentin, beschreibt
es in ihrem Buch "Befreit euch! Anleitung zur kleinen Bildungsrevolution" sehr treffend:

"Inklusion hat überhaupt nichts mit Integration in irgendein System zu tun, sondern bedeutet das Gegenteil, nämlich: dass nicht von einem "richtigen" normierten System aus gedacht wird, sondern von
der real existierenden Vielfalt... Wo Noten der Maßstab von Bewertung sind, kann Inklusion nicht wirklich stattfinden."

"Jedes Kind sollte während der Schulzeit die Möglichkeit haben, herauszufinden, was es kann - und wie dieses Können sinnvoll und realistisch in die Welt eingebracht werden kann. Was könnten wir alles in den 12, 13 Jahren bei all diesen Heranwachsenden auf den Weg bringen - wenn wir nicht immer bewerten, vergleichen und in Raster einhegen müssten."

"Unser Bildungssystem ist nicht zukunftsfähig. Unsere Schulen bilden in keiner Weise den vorhanden Reichtum an Potentialen ab, welchen die Kinder und Jugendlichen mitbringen."

"Inklusion soll innerhalb eines exklusiven Systems realisiert werden.
Dies ist - ganz einfach gesagt - die Quadratur des Kreises und k a n n nicht gelingen. 
Der Burnout zahlreicher Lehrkräfte und die Unzufriedenheit großer Elternteile sind vorprogrammiert - vor allem aber die persönliche, schmerzhafte Erfahrung des Scheiterns einer ganzen jungen Generation, welche die Schulzeit als eine ununterbrochene Begrenzung ihrer Persönlichkeit und ihrer Möglichkeiten in Erinnerung behalten wird."

"Menschen können kooperieren oder konkurrieren. Beides zusammen geht nicht. (...) Unser derzeitiges Schulsystem begünstigt Konkurrenzverhalten. (...) Bildung wird in diesem Zusammenhang zu einer streng individuellen Investition in möglichst günstige Ausgangsbedingungen im allgemeinen Konkurrenzkampf.

Die zunehmende narzisstische Vereinzelung führt spürbar zu einem Verschwinden der vier demokratischen Kernkompetenzen:
1. Empathie
2. Toleranz
3. Vertrauen
4. Identifikation
Die Auswirkungen,
so schreibt Maike Plath, sind deutlich spürbar:
"Von vermehrten Verhaltensauffälligkeiten und sozialen Störungen bei den Jugendlichen bis hin zu populistisch und antidemokratisch agierenden Randgruppen in unserer Gesellschaft."

 (Hervorhebungen von mir. K. Uttrodt)

Das Buch von Maike Plath und ihre Arbeit beflügeln mich sehr:

Wie sie junge Menschen Schritt für Schritt dazu befähigt, selbst Regie zu übernehmen - im Theater und im eigenen Leben, das finde ich richtungsweisend:

https://act-berlin.de

In Berlin finden laufend Kurse statt, in denen man sich mit Maike Plaths Arbeitsprinzipien vertraut machen kann.

Im Herbst 2020 beginnt in Lörrach ein Pilotkurs 

Gleichwürdige Führung: Vom Gehorsam zur Selbstverantwortung
30.10.2020 – 30.10.2021
im Werkraum Schöpflin in Lörrach

Das »Mischpult-Prinzip« geht von der praktischen Erfahrung aus, dass Menschen nur dann miteinander kooperieren und demokratische Kernkompetenzen erwerben, wenn entsprechende Umfelder dafür geschaffen werden. Demokratisches Denken und Handeln wird von Grund auf vermittelt, verstärkt und im konkreten, praktischen Handeln verinnerlicht.

Die Weiterbildung richtet sich an Erwachsene mit Führungs-, Erziehungs- oder Bildungsverantwortung und ist grundsätzlich für alle Interessierten offen.

Die Weiterbildung besteht aus sechs aufeinander aufbauenden Modulen:

  • ACT! Wer bin ich? (30./31. Oktober 2020)
  • Führe Regie über dein Leben! – Die Statuslehre Teil 1 (22./23. Januar 2021)
  • Führe Regie über dein Leben! – Die Statuslehre Teil 2 (19./20. März 2021)
  • Führe Regie über dein Leben! – Die Statuslehre Teil 3 (11./12. Juni 2021)
  • Spiele und handle! Die Arbeit mit dem Mischpult-Prinzip (17./18. September 2021)
  • Von der Selbstverantwortung zur gleichwürdigen Führung und Abgabe von Verantwortung (29./30. Oktober 2021)

Darauf freue ich mich sehr!