Bommel
(Dieser Text entstand im Rahmen eines Schreibseminars bei Christiane Keppler, Thüringische Sommerakademie, Böhlen 2016 - Danke!)
Bernhard Bommel hatte eine neue Leidenschaft.
Auf seinen langen Bahnfahrten, die er regelmäßig samstags unternahm, hörte er nicht mehr das regelmäßige Pochen, mit dem die Regionalbahn über die Gleise ratterte. Er roch auch nicht mehr die nassen Mäntel der Mitreisenden. Er fühlte nicht mehr den kratzigen Stoff, aus dem die Sitze gemacht waren. Er sah nicht mehr die belustigten Blicke der anderen, die über seinen dicken Bauch nach unten wanderten, wo die zu kurz geratenen Beine eine Handbreit über dem Boden in der Luft baumelten.
Bernhard Bommel las.
Er verwandelte sich dabei in einen Gefährten des Urs von Waldeck, er kämpfte an der Seite des großen, bärtigen Holzfällers gegen eine Gruppe versprengter Landsknechte. Die Namensverwandtschaft konnte kein Zufall sein. Er, Bernhard, der Bärenstarke, kämpfte an der Seite von Urs, dem Bären. Bommel spürte förmlich, wie ihm von Zeile zu Zeile Bärenkräfte zuwuchsen. Er half Urs, sein Haus zu verteidigen, im tiefen Schnee Spuren zu lesen und wilde Tiere zu jagen. Gerade entdeckten sie eine Horde Wildschweine. Die zwei Gefährten spannten ihren Bogen - da gab es einen großen Ruck.
Der Zug blieb stehen. Ein Koffer rutschte aus der Gepäckablage und traf Bommel schmerzhaft am Kopf. Das Buch fiel ihm aus der Hand. Ringsherum herrschte großes Durcheinander.
Die Reisenden kurbelten die Fenster herunter. Was war da passiert? Warum dieser Halt auf freier Strecke? Nichts zu erkennen.
Als es immer noch nicht weiterging und auch keine Durchsage vom Zugführer kam, beschlossen einige Passagiere auszusteigen, um die Lage zu erkunden.
Bommel war unsicher: Einerseits war er kein Draufgänger, der überall vorne mit dabei sein musste. Andererseits wollte er auch nicht tatenlos hier herumsitzen. Und auf sein Buch konnte er sich bei diesem Tumult sowieso nicht mehr konzentrieren. Also schloss sich Bommel der Gruppe junger Männer an, die den Wagen auf freier Strecke verließ. Als er auf der obersten Stufe stand und weit unter sich den Schotter der Gleise sah, dachte er kurz an die Schmach, damals, im Freibad, auf dem Dreimeter-Brett. Bommel hangelte sich schwitzend bis zur untersten Stufe, nahm all seinen Mut zusammen und ließ sich plumpsen.
Draußen nieselte es und Bommel sorgte sich um seinen Anzug. Inzwischen waren sie neben dem Zug nach vorne gelaufen, Bommel immer darauf bedacht, seine hellen Wildlederschuhe nicht zu beschmutzen.
Zuerst sah Bommel nur einen Jeep, der etwa zehn Meter vor der Lok quer über den Gleisen stand. Dann wunderte er sich über die Tiere, die trotz der allgemeinen Aufregung friedlich rings um die Lokomotive grasten.
Es waren keine Tiere, die Bommel kannte. Keine Kühe oder Rehe. Am ehesten sahen sie aus wie die Lamas, die er mal im Zoo gesehen hatte. Bommel hielt sich vorsichtshalber von ihnen fern. Lamaspucke auf dem Anzug war das letzte, was er heute brauchen konnte.
Vor der Lok stehend redeten mehrere Menschen wild gestikulierend aufeinander ein. Bommel brauchte eine Weile, bis er verstand, was da los war.
Der Jeepfahrer, ein mittelgroßer Mann in einem roten Arbeitsoverall, die schmalen Lippen zusammengepresst und die Arme demonstrativ vor der Brust verschränkt, dieser Jeepfahrer war nicht dazu zu bewegen, mit seinem Fahrzeug die Gleise zu verlassen. Weder das Bitten der ungeduldigen Passagiere noch das Drohen des zornigen Lokführers konnten an seiner Entscheidung etwas ändern. Die Situation schien festgefahren.
Und da hatte Bommel plötzlich eine Idee.
Er drängte sich durch die aufgebrachte Menschenmenge, bis er ganz nahe an dem Jeepfahrer stand. Er konnte seine Nasenhaare beben sehen und sein Aftershave riechen. Bommel fasste ihn mit beiden Händen an den Ohren (dazu musste er sich etwas recken), zog seinen Kopf etwas zu sich herunter - und küsste ihn auf den Mund.
Es dauerte eine Sekunde, bis der Geküsste begriff.
Er hielt inne, sah Bommel an, als sähe er durch ihn hindurch und ließ seine Arme sinken. Ohne ein Wort gab er Bommel seine Zündschlüssel, ging ein paar Schritte zur Seite und setzte sich an die Böschung.
Niemand verstand, was hier gerade vor sich ging.
Bommel schmunzelte in sich hinein.