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Busfahrt in Peru

(von Puno nach Arequipa - 200 km - sechs Stunden)


Karg die Landschaft,

wortkarg die Menschen.

Die Landschaft spart an Schönheit,

die Menschen sparen an Worten -

außer dem Verkäufer, der seit einer halben Stunde vorn im Bus steht und die verschiedensten Medikamente gegen Gastritis anpreist. Er hat ein tragbares Mikrofon dabei und den Lautsprecher um den Hals gehängt. Mit erhobenem Zeigefinger redet er gegen klingelnde Handys, raschelnde Zeitungen und Kopfhörer mit Musik an. Er steigert sich in seinen Vortrag hinein. Als er die Preise nennt, überschlägt sich seine Stimme.

Die meisten Reisenden geben die Beutelchen mit den Proben zurück, die er vor zehn Minuten ausgeteilt hat. Sein Rucksack ist fast so voll wie vorher.

Ich habe Mitleid, bringe es aber trotzdem nicht fertig, aus purer Freundlichkeit zuzuhören. Stattdessen schaue ich aus dem Fenster.

Und sehe eine alte Frau, die an einer zugigen Straßenecke sitzt. DIe Becher mit Melonenstücken hat sie mit Folie abgedeckt, zum Schutz gegen die schwarzen Autoabgase und den aufwirbelnden Straßendreck.

Als er seinen Vortrag begann, bat er um zehn Minütchen Aufmerksamkeit. Die dürften längst rum sein. Jetzt verteilt er Bonbons. Zwei für einen Sol und fünf für zwei Soles.

Die Show scheint vorbei. Er zählt seine Münzen und Scheine. Das Mikrofon wird eingepackt, Er verstaut seine Jacke im Gepäckfach und setzt sich selbst neben den Eingang zur Toilette. 

Viel Niemandsland zwischen den staubigen Städten.

Kein Baum.

Keine Blume.

Kein Brunnen.

Das Leben ist eine Baustelle.

Hier besonders.

Nichts sieht fertig aus.

Alles ist im ewigen Übergang.

Es ist, als wehrte diese Landschaft die Menschen ab.

Und wer sie bezwingen und trotzdem hier leben will, muss sehr hart sein.

Ich sitze erhaben und bin gottfroh, nicht Teil dieses Lebens da draußen zu sein.

Sondern fort zu können.

Bald nach Hause zu fliegen.


Mitten im graubraunen Nichts zuerst ein Friedhof, 

der Eingang von einem stilisierten Engel bewacht.

Dann ein bunter Turm mit Rutsche, eine Art Vergnügungsplatz.

Danach ein einzelnes, verspiegelte Hochhaus.

Am Schuppen nebendran ist eine rote Flasche an die Wand gemalt.

Auch ohne Schriftzug erkennt man sofort, dass es sich um das allseits präsente braune amerikanische Zuckerwasser handelt.


Schroff die Felsen.

Schroff die Menschen.

Die Wolken hängen tief hier oben.

Ich bete, dass nichts passiert.

Woher sollte die Hilfe kommen?

Von den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt?

Die Inkas sahen die Berge als zornige Gottheiten,

die man mit Menschenopfern besänftigen muss.

Jetzt prasselt der Regen auf den Bus.

Draußen grast eine Alpakaherde.

Die Tiere werden nass.

Nichts ist so scheußlich wie nasse Wollsocken, denke ich.

Soeben passieren wir ein gelbes Schild, auf dem zwei nebeneinander fahrende Autos durchgestrichen sind. Darunter steht auf spanisch "Überholverbot". Ich bin gerade dabei, mir die neue Vokabel einzuprägen, als unser Bus in der Kurve dazu ansetzt, einen langen Laster zu überholen.

Die Fernseher gehen an, ein Film beginnt: "SAN ANDREAS".

Eine junge Frau fährt mit ihrem Auto eine schmale und kurvige Bergstraße entlang.

Es gibt ein Erdbeben.

Durch den Steinschlag kommt sie von der Straße ab und stürzt die Klippen hinunter.

Schreie, Splittern, Krachen.

Man hört jemanden schwer atmen.

Eine Männerstimme redet beruhigend auf eine hysterische Frau ein.

Ein Hausdach bricht auf eine flüchtende Menschenmenge herunter.

Eine Frau öffnet eine Tür und sieht Menschen in die Tiefe stürzen.

Ein brennender Mensch kommt auf sie zu gerannt.

Arequipa, unser Ziel, ist berühmt dafür, in jedem Jahrhundert mindestens einmal von einem Erdbeben heimgesucht zu werden.


Draußen endlose Weite.

Ab und zu eine Herde Lamas.

Unser Busfahrer hupt zweimal, als wir an zwei Kreuzen vorbeifahren.

Vielleicht kannte er die Toten?


Düster die Landschaft.

Düster der Film.

Früher hängte man Kruzifixe auf und betrieb manch anderen Zauber, um Unheil abzuwehren. Heute zeigt man Katastrophenfilme. Wie, um den bösen Geistern zu zeigen: Alles schon erledigt, die Menschen sind vernichtet, ihr könnt euch beruhigt wieder hinlegen. Oder soll der Film den besorgten Reisenden vermitteln: Alles gar nicht echt, ist ja nur ein Film?

Zwei schwarze Metallkreuze am Wegesrand, diesmal eingefasst von einem bröckelndem Häuschen aus rotem Ziegelstein.

Der Rettungshubschrauber, der eben eine Frau aus einem brennenden Hochhaus gerettet hat, kommt nun selber ins Trudeln und stürzt ab.

Draußen schneit es.

Ein verlassenes Restaurant, das einsam an der Straße steht, ist "zu verkaufen". 

Alle Frauen im Film sind jung, hübsch, schlank und langhaarig.

Am Straßenrand zeigt ein Schild eine gefährliche Linkskurve an.

Es gibt nur ein kurzes Stück Leitplanke.

Im Film sitzen der Hubschrauberpilot und seine Kollegin nun in einem Auto. Plötzlich müssen sie scharf bremsen. Vor ihnen tut sich ein tiefer Abgrund auf.

Der LKW-Fahrer, den wir gerade überholen, gähnt herzhaft. Hoffentlich ist unser Busfahrer nicht genauso müde.

Neben der Straße tun sich tiefe Schluchten auf. Das Flussbett ganz unten ist trocken, sieht aber aus, als würde zu Zeiten ein reißender Strom darin wüten.

Jetzt tastet sich eine alte Frau mit langen, schwarzen Zöpfen und Strohhut nach vorn. 

Will sie etwa aussteigen? Hier?

Das einzige, was man sehen kann, sind ein paar Ställe aus Stein.

Der Bus fährt langsamer.

Es geht über eine Brücke.

Der Mann schräg vor mir ist eingeschlafen.

Seine Brille liegt auf dem Bauch und sein Arm hängt schlaff herab.

Wieder ein blumengeschmücktes Kreuz am Rand.

An einer strohgedeckten Lehmhütte steigt die alte Frau aus.

In welchen Alltag kehrt sie mit ihren Einkäufen zurück?

Gehört ihr die Lamaherde, die gleich nebenan weidet?

Ist die junge Frau ihre Tochter?

Gibt es in der Hütte Strom?

Der Pilot und seine Gefährtin sind auf einem kleinen Boot, als ein Seebeben direkt neben ihnen ein Containerschiff zum Kentern bringt. Sie tauchen gerade noch rechtzeitig unter der riesigen Schiffsschraube hindurch. Container stürzen herab. Die Golden Gate Bridge versinkt in den Fluten.

Die Landschaft, die vor dem Fenster vorbeizieht, könnte auch auf dem Mond sein.

Nur die Strommasten und der Müll zeugen von menschlicher Existenz.

Die beiden Hauptprotagonisten küssen sich zum ersten Mal.

"Am 24. Januar 2006 passierte hier ein tödlicher Unfall." Das mit diesem Text beschriftete Kreuz ist ungewöhnlich groß, daneben zwei kleinere.

Die beiden katastrophenerprobten Neuverliebten befinden sich immer noch auf dem  Boot und winken einer Frau und einem Jungen im Hochhaus zu.

Plötzlich bricht das Hochhaus vor ihren Augen zusammen. Glasscheiben bersten,  Wasser bricht herein. Schwimmend rettet das Paar die beiden.

Noch während der Wiederbelebungsversuche bricht draußen die Sonne heraus.

Erst, als wir den kleinen, silbernen PKW überholen fällt mir auf, dass bisher auf dieser Straße nur Busse und LKWs unterwegs waren.

Als alle schon um das ertrunkene Fräulein weinen, versucht der tätowierte Held ein letztes Mal eine Herzdruckmassage - und erweckt die blasse Schöne wieder zum Leben.

Neben uns ist das einzige Zeichen von Leben die Zugschiene, die parallel zur Straße verläuft.

Eine beleibte Dame in weiten Röcken zieht sich langsam von Sitzreihe zu Sitzreihe in Richtung Klo. Ich frage mich, wie sie in dieser Enge und mit dem schon halbvollen Urinbecken zurechtkommen wird. 

Alle Hauptdarsteller schauen in die Abendsonne.

- ENDE -

Wir passieren eine Kurve mit 15 oder mehr Kreuzen.

Ein abgestürzter Bus?

Der Abhang sieht abgeschürft aus an dieser Stelle. Gegenüber der Schlucht steht nochmal eine Reihe von Kreuzen.

Wie gern würde ich aussteigen.

Der Abspann läuft.

Warum halten wir hier?

Eine Baustelle.

Auf der Karte ist unsere Strecke eine gelbgrüne Linie von wenigen Zentimetern.

Grün, weil "landschaftlich reizvoll". 

Beängstigend tief unter uns die Bahngleise

und so viel

Land

Land

Land.

Und wir Menschen so

klein

klein

klein.

Winzig klein und abhängig.

Warum liegen da unten so viele schwarze Reifen?

So viele Autos können doch gar nicht abgestürzt sein?

Vielleicht ein LKW, der Reifen geladen hatte?

Wir überqueren einen gelben Fluss, der mir schlagartig den Geruch der Toilette ins Bewusstsein zurückholt. 

Ich muss mal. 

Ist die Frau schon zurück?

Und noch dreieinhalb Stunden bis Arequipa.