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Der Brief

Nervös drehte Ali die Münze zwischen seinen Fingern.

Das Geschnatter, Gezeter und Gewühle auf dem staubigen Marktplatz nahm er gar nicht wahr.

Mit zusammengekniffenen Augen starrte er auf den alten, dürren Mann mit der kleinen, runden Brille, der abseits des Trubels an einem wackeligen Tischchen saß.

"Dokumente - Briefe - Schreibarbeiten aller Art" stand auf dem Pappschild. Das konnte Ali nicht lesen, aber er wusste es. Wusste es, weil vor dem Tischchen eine Schlange Menschen stand, geduldig wartend, mit Papieren in der Hand.


Sollte er das Geld für einen Brief ausgeben? Einen Brief an Aische, die sein Herz fast zum Zerspringen brachte, wenn sie ihn nur von weitem ansah?

Und was würde er seiner Mutter sagen, wo das Geld geblieben sei, das Geld für die verkaufte Ziege?

Zögernd reihte Ali sich in die Menschenreihe ein.

Noch nie hatte er einen Brief geschrieben, noch nie einen Brief bekommen.

Wenn er an die Schule dachte, erinnerte er sich nur an die Stimmen. Die Stimmen von achtzig Kindern. Die Stimmen, die im Unterricht alle gleichzeitig brav die Koranverse herunterleierten. Die Stimmen, die in der Pause alle gleichzeitig wild durcheinander schrieen.


Der Schreiber nahm Geld entgegen, schaute auf: "Der Nächste!"

Die Reihe rückte ein Stück nach vorn.


Und an das Quietschen erinnerte er sich. Das Quietschen des Griffels auf der Tafel. Wie krumm ihm immer die Buchstaben gerieten. Und wie dann der Stock kam. Der schnelle, der zischende, der unbarmherzige Stock, der auf die schmutzigen Jungenhände niedersauste.

Bei dem Gedanken daran vergrub Ali unwillkürlich seine Hände in den Hosentaschen.


Er befühlte das Geldstück. 


Eine Ziege - das Essen einer ganzen Woche - für einen Liebesbrief?

"Versuchs doch!" hatte sein Freund gesagt. "Mädchen steh'n auf sowas! Romantik und so. Deine Lippen sind wie Rosenblüten, deine Brüste sind wie -" aber da hatte Ali schon einen Sprung gemacht und Raschid war lachend davongerannt.


"Der Nächste!" Der Schreiber sah hoch und Ali erkannte kleine wache Äuglein die zwischen tausenden Fältchen hervorblitzten.

Eine Frau in vielen Röcken nahm umständlich auf dem Hocker vor dem Tischchen Platz. Die Reihe rückte weiter.


Musste man den Text eigentlich schon im Kopf haben? Was sollte er antworten, wenn ihn der Schreiber fragte?

Ali war drauf und dran, umzudrehen. 

Aber er wusste: Heute oder nie. 

Morgen würde Aische wegziehen, in eine andere Stadt. Sie würde dort studieren... und wenn er sie in ein paar Jahren wiedersähe, dann hätte sie vielleicht schon Mann und Kinder.

Ali schluckte.

Er starrte auf den roten Plastikhocker, auf den der Mann jetzt freundlich, aber auch ein wenig ungeduldig zeigte. 

Mit leiser Stimme erklärte Ali ihm sein Anliegen.


Vorsichtig nahm er den blütenweißen Umschlag entgegen und versteckte ihn in seinem Hemd, direkt über seinem Herzen.


Als er in sein Dorf zurückkam, war es schon dunkel.

Er schlich zu Aisches Haus und schob den Brief mit zitternden Händen unter der Tür hindurch.


Seine besorgte Mutter empfing ihn erleichtert. Als sie von dem verlorenen Geld hörte, sackten ihre Schultern leicht nach unten. Aber sie ließ sich nichts anmerken, schimpfte nicht und strich ihrem Sohn beruhigend über den Rücken.


Am nächsten Tag machte er sich früh auf, um Aische auf dem Weg zum Bus abzupassen. 


Da sah er sie, umringt von ihren lachenden Freundinnen. Sie hielt etwas Weißes in der Hand - seinen Brief! Die Mädchen kicherten. Ali duckte sich.

Er hörte, wie Aische mit erhobener Stimme vorlas:


Wenn morgen die Erde aufhört sich zu drehen,

sage ich dir Auf Wiedersehen!

Ich habe dich gesehen,

da ist's um mich geschehen!


Die Mädchen prusteten und kreischten.

Ali schlich davon.


Er hat sein Dorf nie verlassen und starb im Alter von 92 Jahren als Ziegenhirt. 

Er hinterließ keine Frau und keine Kinder.