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Unvollendet


Ernesto schaute die ausländische Fotografin an, als wäre sie gar nicht da. 

"Podria sacar una foto?" hatte sie freundlich gefragt. Warum sollte er ihr das verweigern? Auch wenn er nicht verstand, was die Frau hier so interessant fand. Die fast leeren Regale? Seine schwarze Baseballkappe, die ihm ein Tourist geschenkt hatte? Oder die Metallgewichte für die Waage, die auf der Theke lagen? 

Ernesto selbst fand sein Leben sehr, sehr durchschnittlich. Klar, seine Eltern hatten ihm den Namen des großen Revolutionsführers gegeben. Denn als Ernesto geboren wurde, war das kleine Land voll großer Hoffnung: Wenn ein Dutzend Guerillakämpfer den mächtigen Batista und seine Soldaten besiegen konnte, was würde dann in der Zukunft alles möglich sein? 

Doch dieser Sturm der Herzen, der Wind des Aufschwungs hatte sich gelegt und eine lähmende Hitze hinterlassen, die nun schon jahrzehntelang anhielt.

Wie konnte er, Ernesto, seinem großen Vorbild nacheifern? Er war kein Mediziner, er hatte keine Waffe - und wenn, gegen wen hätte er sie auch erheben sollen? Das Land wurde vom Volk regiert. War dann das Volk schuld an diesem Stillstand, der kein Stillstand mehr war, sondern schon ein Rückwärtsgang? Das Land verfiel, verlotterte, vermoderte, verrottete. Die Gedanken in Ernestos Kopf begannen zu stottern wie der Motor eines alten LKW. Schwarzer Rauch stieg auf.

Ernesto sprang hoch, riss der Fotografin die teure Kamera aus der Hand, warf sie auf den Boden und schrie all seinen Schmerz heraus: 

"Was gibt es da zu gaffen? Glaubt ihr, ihr seid im Zoo? Ihr ergötzt euch an unserer Armut, weil ihr euch dann noch besser fühlt! Ihr belächelt das Versagen des Sozialismus und haltet euch für die Sieger der Geschichte! Wartet nur ab, eines Tages, eines nicht mehr allzu fernen Tages wird ein Sturm durch alle eure Länder gehen. Nein, kein Sturm, ein Hurrikan!!! Und er wird alles hinwegfegen, was euch lieb und teuer ist!" Ernesto war auf die Theke gesprungen und hielt die Eisengewichte der Waage in den geballten Fäusten wie Handgranaten. "Eure Kameras und eure Autos, eure Fernseher und eure Häuser, eure Smartphones und - " 

Er keuchte und Spucke spritzte schaumig aus seinem Mund.




(noch unvollendet - Vorschläge für das Ende der Geschichte bitte an mich senden)