Der stumme Sänger
Das erste, was Martha von ihm wahrnahm, war seine Stimme.
Sie stand gerade mit den anderen Mädchen im Hinterhof beim Wäschewaschen, als sich die goldenen Härchen auf ihren Armen aufrichteten.
Über das Gackern der Hühner, das Klatschen der nassen Wäschestücke auf dem Stein, das Lachen ihrer Freundinnen, das Rufen der Verkäufer - über all die Geräusche ihres Alltags erhob sich ein Lied.
Da war etwas in diesem Gesang, was wie das Echo ihrer geheimsten Empfindungen widerhallte. Als hätte jemand in ihre Seele geschaut.
Während die anderen Mädchen um sie herum weiter schwatzten und scherzten, stand Martha wie versteinert, den Blick in eine unbekannte Ferne gerichtet und lauschte der näher kommenden Stimme.
Als der Gesang plötzlich abbrach, rannte Martha aus dem Hinterhof auf die lärmende Gasse und suchte im Gewühl der Menschen nach der Stimme, die sie soeben aus ihrem Alltag gerissen hatte.
Jetzt, mehr als 40 Jahre später, muss Martha lächeln beim Gedanken an diesen Moment. Sie sieht ihr Leben wie einen alten Schwarz-Weiß-Film, der sie mit seinen kitschigen Einstellungen zu Tränen rührt, an sich vorüberziehen.
Das Mädchen, das sie gewesen war, heiratete den jungen Mann mit der Gitarre, dem störrischen schwarzen Haar und dem pockennarbigen Gesicht. Marthas Eltern waren nicht begeistert, aber ihre eigene Begeisterung ließ alle Zweifel verstummen.
Das Lied, welches er für sie geschrieben hatte und am Morgen ihrer Hochzeit für sie sang, begleitete Martha durch alle Höhen und Tiefen ihres Lebens. Er sang es für sie, als ihr Vater starb, er sang es, als sie ihr erstes Kind in den Armen hielten und er sang es, als sie voller Angst im Krankenhaus lag.
Sie erinnert sich nicht, wann genau es begann. Oder besser: wann es aufhörte.
Zum zehnten Hochzeitstag hatte er ihr ein kleines Radio geschenkt. Er musste lange dafür gespart haben. Wenn er spätnachts von seiner Tour nach Hause kam, wo sie auf ihn wartete, legte er das eingesammelte Geld auf den Tisch und seine Augen leuchteten. Er war stolz, sie und die kleine Tochter ernähren zu können, auch wenn sie mit Näharbeiten für die Nachbarschaft etwas dazuverdiente. Das Radio überreichte er ihr mit den Worten: "Damit auch Musik im Haus ist, wenn ich den ganzen Abend unterwegs bin!"
Und sie liebte das Radio.
Sie liebte es, beim Nähen die Melodien mitzusummen, dem gut gelaunten Moderator zuzuhören und die Glückwunschsendungen zu verfolgen.
Wenn er heute spätnachts nach Hause kam, schlief sie schon und morgens, wenn sie aufstand, war er noch nicht wach. Sie stellte fest, dass das Geld, das sie jeden Morgen auf dem Küchentisch fand, immer weniger wurde.
Sie sah ihn mit anderen Augen an.
Seine Haare waren grau geworden, seine Schultern gebeugter.
Überhaupt kam er ihr verschlossener vor.
In ihr reifte ein Entschluss.
Eines Abends, er hatte gerade leise die Tür hinter sich zugezogen, schlüpfte sie in ihre Schuhe, streifte sich ihre Strickjacke über und folgte ihm heimlich.
Mit langsamen Schritten und hängendem Kopf bewegte er sich auf die Touristenmeile der Stadt zu. Je näher sie kamen, um so lauter wurde es. Martha war schon lange um diese Uhrzeit nicht mehr hier gewesen. Wenn sie vormittags die erledigten Näharbeiten austrug, sah sie nur die vielen Tische und Stühle vor den Restaurants, in unterschiedlichen Farben. Doch in der heißen Mittagssonne war es still und friedlich, nur ein paar Hunde dösten im Schatten unter den leeren Tischen vor sich hin.
Jetzt aber, in der Dunkelheit, kam ihr die Straße wie verwandelt vor:
Überall lärmte und blinkte es, ständig wurde sie angesprochen: Kellner hielten ihr Menükarten vor die Nase, Kinder wollten ihr aus Palmblättern geflochtene Blumen verkaufen und Bettler jammerten sie um eine Münze an.
Martha wurde es ganz schwindelig. Sie hatte ihren Mann aus den Augen verloren. Wie vor 40 Jahren suchte sie im Gewühl nach seiner Stimme - nur fühlte sie sich diesmal hilflos und verloren.
Und wie damals stand sie wie versteinert. Sie hörte nicht die wogende Menschenmenge um sich herum. Es war absolut ruhig, als hätte jemand den Ton abgestellt.
Sie suchte seine Stimme, die sie retten würde aus diesem Meer von Menschen. In Zeitlupe bewegten die dicken Touristinnen ihre grell geschminkten Münder, schoben sich fetttriefende Hähnchenschenkel zwischen die Lippen, lachten und spuckten dabei Stückchen aus.
Sie sah die Musiker in ihren weißen Hemden, Pomade im Haar, die sich hoffnungsvoll aufstellten.
Sie sah die dröhnenden Lautsprecher, die am Ausgang jedes Restaurants hingen.
Sie sah die festlich angezogenen Gäste, die einander zugebeugt angestrengt die Hände ans Ohr hielten, um ihren Tischnachbarn zu verstehen.
Sie sah die Bildschirme, auf denen die neuesten Musikvideos flackerten: Grellbunte Filme mit schnellen Schnitten, in denen sich junge Frauen wolllüstig räkelten.
Sie sah die abwehrenden Handbewegungen der Leute, wenn ein Musiker spielbereit an ihren Tisch trat. Meist schauten sie dabei gar nicht auf von ihrem Gespräch.
Und da entdeckte sie ihren Mann.
Verloren stand er da in dem fröhlichen Getümmel.
Verloren hatte er das Leuchten in seinen Augen.
Verloren seine stolz gestrafften Schultern.
Verloren seinen Mut.
Klein, hilflos und traurig stand er dort.
Und plötzlich waren die Geräusche wieder da.
Alles toste gleichzeitig auf Martha ein.
Wie die Wogen des Roten Meeres auf die Ägypter einstürzten, so wurde sie in diesem Augenblick, als sie ihn wiedersah, von den brüllenden Geräuschen verschlungen.
Genau weiß sie nicht mehr, was danach geschah.
Am nächsten Morgen sprach man überall davon:
In der Nacht war im ganzen Viertel der Strom ausgefallen.
Jemand musste absichtlich die Stromversorgung gekappt haben.
Die Polizei untersuchte den Fall.
Martha lag mit Kopfschmerzen im Bett und träumte schwer.
Sie wurde wach von einer Melodie, die sie schon lange nicht gehört hatte.
Ihr Mann saß summend an ihrem Bett und streichelte lächelnd ihre Hand.