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Hätte, wäre, wenn

Die alte Frau in dem schäbigen Mäntelchen hockte zusammengekrümmt auf der Parkbank. Neben ihr lag ein Stoffbeutel, der aussah, als hätte sie ihn schon ihr ganzes Leben. 

Menschen mit hochgeklappten Mantelkrägen eilten vorbei, gegen den Wind ankämpfend. 

Nasse Blätter und eine zerfetzte Plastiktüte wirbelten über den braunen Boden. 

Die kleine Frau starrte auf das Stück Papier in ihren knotigen Händen. 

Darauf stand etwas, worauf sie ihr Leben lang gewartet hatte. So gewartet hat, wie man auf etwas wartet, von dem man mit Gewissheit weiß, dass es passieren wird. Man weiß nur nicht, wann. 

Nun war es endlich soweit. Und doch war es ganz anders. 

Sie war erschüttert. Erschüttert über sich selbst. Über ihre Gefühle. Oder besser: Nicht-Gefühle. 

All die Jahre hatte sie diesen Moment vor sich gesehen: 

Die Überraschung, die Freude, das Glück gespürt - vorgefühlt, sozusagen. 

Und nun? Nichts. Gar nichts. Oder doch: Leise Enttäuschung. Aber warum? 

Und dann spürte sie noch etwas. Siedend heiß schwappte die Erkenntnis durch ihren Körper:

Dieser Zettel lachte sie aus. 

Sie konnte es genau hören. 

DAS ALLES HÄTTEST DU HABEN KÖNNEN! 

SCHÖN WÄR'S GEWESEN, WAS?

WAR - ES - ABER - NICHT!!!

Höhnisches Gelächter schepperte in ihren Ohren. Sie dachte an Fausts Mephisto. 

Der Ekel kroch langsam in ihr hoch. Ekel vor sich selbst. 

Wie hatte sie das zulassen können? Wie hatte sie es zulassen zu können, ihr Leben in einer Warteschleife zu verbringen? Vertrödelt, verplempert, vertan. Vertane Zeit. 

Das war nun das Ergebnis. Nach mehr als 80 Jahren auf dieser Welt. 

Ein salziger Tropfen fiel auf den Zettel und blieb auf der beschichteten Oberfläche liegen. Er wirkte wie eine Lupe und vergrößerte eine der Zahlen. 

Sie sah sich selbst von oben: Ein winziges Weiblein, ein kleiner schwarzer Fleck auf einer grünen Parkbank. Diese Perspektive wurde manchmal von Menschen berichtet, die ein Nahtoderlebnis hatten. Nah am Tod war sie, das spürte sie schon seit Monaten. Und nun, was nun? 

Mit dem Handrücken wischte sie die Tränen aus dem Gesicht. Wie ein wütender Hund zerrte der Wind an dem Zettel, der nur noch von Daumen und Zeigefinger ihrer linken Hand gehalten wurde. 

Sie starrte auf ihre Hände.

Ihre schmerzenden Finger. 

Jede Bewegung machte ihr Mühe. 

Aber diesmal öffneten sich die Finger von ganz allein. 

Daumen und Zeigefinger ließen ihn frei - den Zettel. 

Den Zettel mit den Lottozahlen. 

Den Zettel mit dem Millionengewinn. 

Sie sah ihm nach, wie er in den grauen Herbsthimmel verschwand. 

Taumelnd zuerst, dann tanzend. 

Sie nahm ihren Stoffbeutel und erhob sich mühsam. 

Tat die ersten Schritte auf dem Weg nach Hause. 


Taumelnd zuerst, dann tanzend.


(Juli 2018)