Maroween
Maro, Südspanien, am Abend vor Allerheiligen
(I)
Eine große kürbisrote Fratze grinst über einem schwarz glänzenden Müllsack, der im Wind knattert. Kleine Vampire mit weißen Gesichtern spielen Fangen. Dicke Mädchen in kurzen Tüllröckchen und blinkenden Teufelshörnern schieben sich rosarote Zuckerwatte in den Mund.
Die Kirchentür steht offen, drinnen Reihen alter Frauen: graue Haare, weiße Haare, braun gefärbte Haare. Nun tritt der Priester ans Mikrofon. Hinter ihm hängt eine goldverzierte Wandlampe mit rotem Schirm. Das elektrische Licht darin flackert wie die blinkenden Lichter am Karussell vor der Kirche.
Neben mir schiebt eine etwa siebzigjährige Frau ein Mädchen in die Bank. Ich schätze die Kleine auf etwa acht Jahre. Sie trägt ein schwarzes Kleid, auf das ein giftgrünes Skelett aufgedruckt ist. Ihr Gesicht ist ebenso grün angemalt, die Lippen leuchten so rot wie die ihrer Großmutter. Durch das Ohr des Mädchens windet sich eine glitzernde Schlange. Auf dem Haarband und auf ihren Handschuhen sind große, grüne Plastikspinnen aufgenäht. Ihr schwarzer Lackrock passt zu den Ballerinas, die sie sonst wahrscheinlich nur sonntags trägt. Sie legt eine volle Plastiktüte vor sich hin, vorsichtig bemüht, nicht zu laut zu knistern.
(II)
Jetzt sind wir doch zu spät gekommen, madre mia! Die ganze Zeit rede ich auf Carmen ein, sie soll sich beeilen beim Schminken der Kleinen, aber nein, sie musste ja noch telefonieren mit ihrem neuen Freund, diesem...
GEBENEDEIT SEIST DU, JUNGFRAU MARIA, UND DIE FRUCHT DEINES LEIBES
...diesem Luftikus, diesem Angeber. Was wohl der Priester denkt, wenn ich mit so einem grün angemalten Kind hier sitze? Süß sieht sie aus, meine Kleine. Die Haare hat sie von mir: Braune Locken, so wie ich früher. Ein braves Mädchen. Keine von den anderen hat ihr Enkelkind dabei. Aber auf meine kleine Angelina ist Verlass. Klar, dass sie nachher auch auf das Fest will, dieses amerikanische. Ich verstehe nur nicht, warum auch die Erwachsenen so einen Spaß daran...
GEBENEDEIT SEIST DU, JUNGFRAU MARIA, UND DIE FRUCHT DEINES LEIBES
...so einen Spaß daran haben, auszusehen, als ob sie tot wären. Überhaupt – ist das nicht erschreckend für Kinder – all diese gruseligen Sachen? Ich konnte Angelina nicht wegbekommen von diesem Regal mit den Totenköpfen, den blutigen Wunden zum Aufkleben, den abgehackten Fußstümpfen aus Gummi. Das arme Kind! Was sie wohl gedacht hat? Gesagt hat sie nichts. Aber diese schwarzen Handschuhe und das Haarband mit den grünen Spinnen...
GEBENEDEIT SEIST DU, JUNGFRAU MARIA, UND DIE FRUCHT DEINES LEIBES
...wollte sie unbedingt haben. Dafür ist sie auch mitgegangen zum Gottesdienst und jetzt sitzt sie neben mir. Was bin ich froh über die Kleine. Mein einziges Enkelkind... Wie gern hätte ich noch mehr gehabt, aber -
Ach, Rafael.
Was schwafelt dieser Priester da? Wenn ein Mensch stirbt, ist das ein Jubeltag? Der schönste Tag seines Lebens? Rafael hat sich bestimmt nicht aufgehängt, weil das der schönste Tag seines Lebens war! Warum habe ich sie nicht bemerkt, seine Not? Warum hat er uns nichts gesagt? Wenigstens zu mir hätte er doch kommen können. Wieso habe ich ferngesehen - irgendeinen Mist - und nicht gefühlt, dass wenige Meter über mir, auf dem Dachboden, mein Sohn am Leben verzweifelt? Eine Mutter muss doch so etwas spüren! Seit wir ihn dort oben gefunden haben, kommen mir immer die Tränen, wenn ich ein Bild der Muttergottes sehe mit ihrem toten Sohn auf dem Schoß.
„Am anderen Ende der Reise wartet Jesus mit einer großem Umarmung?“ Oh, wie sehr wünschte ich mir das, dass er nicht so alleine war in diesem Moment. Mutterseelenallein. Gottverlassen.
Dass da jemand auf ihn gewartet hat. Vielleicht mein Vater? Dabei kannte Rafael seinen Großvater gar nicht. Aber Seelen erkennen sich. Doch. Ganz bestimmt.
Allerheiligen...
Mein Sohn war kein Heiliger, das weiß ich. Aber er hat Wunder vollbracht. Sicher nicht solche, die die Kirche anerkennen würde. Er hat mich zum Lachen gebracht. Und vor seinem jähzornigen Vater beschützt. Angelina, meine Süße. Sie weiß, dass sie einen Onkel hatte. Aber sie war noch ein Baby damals. Ich will sie nicht damit belasten.
Mein Mann hat nie wieder von Rafael gesprochen. Kein. Einziges. Wort.
Wenn ich weinen muss, geht er immer aus dem Haus und kommt stundenlang nicht wieder. Wo er war, kann ich später an seiner Fahne riechen.
Mein Todestag wird ein Jubeltag sein. Denn dann werde ich ihn wiedersehen, meinen Rafael. Ihn in die Arme schließen und nie wieder loslassen... verdammt, wo sind denn meine Taschentücher? Sentimentales, altes Weib!
Jetzt sind wir schon beim Abendmahl. Ich habe gar nicht zugehört die ganze Zeit. Hoffentlich gibt das keinen Ärger – die Kleine mit diesem Kleid. Hat sie daran gedacht, die Hände zu falten? Sollen sie nur gucken! Gott schaut das Herz an, heißt es doch immer. Wenn einer was sagt deswegen, werde ich fuchsteufelswild!
Ein stattlicher Mann, unser neuer Priester. Nicht so ein feister, verdruckster wie der vorherige. Was der sagte, klang immer so auswendig gelernt und heruntergeleiert. Aber der hier – so muss ein Priester sprechen, so überzeugend. Auch wenn ich nicht glauben kann, was er sagt – es tut gut, sich an seinem starken Glauben anzulehnen. Ein Fels in der Brandung. Schade, das er nicht Pedro heißt. Aber Francisco ist fast noch besser. So wie unser Papst. Ein Glück, dass der deutsche zurückgetreten ist. Der war so trocken wie Papier. Der neue Papst ist voller Leben. Das kann man brauchen, wenn man sich so wenig lebendig fühlt... Wie eine leere Hülle, die man jeden Tag wäscht und anzieht, spazieren führt und füttert. Es darf niemand merken, dass man eigentlich gar nicht mehr da ist. Für die Kleine muss ich da sein. Ihre Mutter hat ja kaum Zeit für sie. Und diese wechselnden Männer tun ihr sicher auch nicht gut, der Kleinen. Na ja, der Mutter auch nicht, aber die sucht es sich schließlich aus. Die Kleine hat keine Wahl. Sie hat nur mich. Und dann kommt sie aus der Schule und klingelt und sitzt am Tisch – da, wo Rafael immer saß – und löffelt still ihren Grießbrei. Essen hält Leib und Seele zusammen, hat meine Mutter immer gesagt. Vielleicht hat sie mich deshalb auch Alma genannt. Früher mochte ich den Namen nicht, aber heute? Die Seele. Und wenn sie da so traurig sitzt und ich nicht weiß, was ich sagen soll, streichle ich ihr über den Kopf und streue noch mal Zucker und Zimt über den Grießbrei. Ich hoffe, sie weiß, was ich damit sagen will.
Ach Francisco, jetzt erzähl doch nicht so lange von den Spenden! Siehst du denn nicht, dass die Leute gehen wollen, raus, auf das Fest? Die Kleine schaut sich schon um. Und wenn wir einfach gingen? Nein, das wäre unhöflich. Ich drücke ihre kleine, warme Hand: Gleich ist es vorbei.
(III)
Es guckt ja gar niemand. Oma hat mit Mama geschimpft, dass sie mich so nicht mitnehmen würde in die Kirche. Aber dann ging es nicht anders. Mama musste mich vorher schminken, weil sie nachher nicht mehr da ist. Sie trifft sich mit ihrem Freund. Ich glaube, Oma mag ihn nicht. Sie sagt zwar meistens nichts, aber sie kneift dann immer so den Mund zu. Vielleicht, damit kein böses Wort rausschlüpft. Böse Worte kann man nicht mehr zurückholen, hat Mama mir erklärt. Ich weiß noch, wie ich zu unserer Lehrerin „blöde Kuh“ gesagt habe, weil sie meiner Freundin Sandra eine Strafarbeit gegeben hat. Danach habe ich mir vor Schreck mit der Hand den Mund zugehalten, aber es war schon raus.
Ich stelle mir vor, dass die Wörter fliegen können. Wie Seifenblasen schweben sie durch den Raum. Der Mann da vorne ist eine Seifenblasenmaschine. So eine, die automatisch immer mehr Seifenblasen macht. Manche Seifenblasenwörter zerplatzen schnell. Andere schweben ganz lange und ganz hoch, bis unter die braunen Balken vom Kirchendach. Aber es gibt auch Seifenblasenwörter, die fliegen den Menschen in die Augen. Wahrscheinlich muss Oma deshalb manchmal weinen. Sonst weint sie nie, nur in der Kirche. Ich versuche auch, nie zu weinen. Ich weine nur in meiner Höhle, die ich mir selbst gebaut habe. Mama weint viel. Besonders oft, wenn Oma gegangen ist. Oma ist Mamas Mama. Und Mama meint, sie könne es Oma sowieso nie recht machen. Mama hatte auch einen Bruder, Onkel Rafael. In Omas Wohnzimmer hängen viele Fotos von ihm: Auf dem Dreirad, bei seiner Erstkommunion, aus dem Urlaub. Er lacht auf ganz vielen Bildern.
Die Maria sieht schön aus in ihrem Glitzerkleid. Wie eine echte Prinzessin, mit einer Krone auf dem Kopf und einer Perlenkette in der Hand.
Der Priester erzählt von einer Frau, die krank war und gesund wurde, weil sie an den Papst geglaubt hat. Sandras Oma ist an Krebs gestorben. Vielleicht hat sie nicht genug an den Papst geglaubt? Ich bin froh, dass meine Oma noch lebt. Auch wenn sie immer will, dass ich mit in die Kirche komme. Das ist langweilig. Aber wenn es mir zu lange dauert, denke ich mir Geschichten aus. Meine Lehrerin sagt, ich kann schöne Geschichten schreiben. Zum Glück war sie mir nicht böse damals.
Das Lied kann ich auswendig. Das singen wir auch in der Schule. Beim Singen machen wir alle Seifenblasen, alle gleichzeitig. Und weil wir die gleichen Worte singen, sind es klitzekleine Seifenblasen, die zusammenkleben wie Blumen. Die fliegen besonders gut. Manche schaffen es sogar ganz nach oben, zum Fenster raus. Oder zur Tür. Die Menschen draußen sehen dann aber keine Seifenblasen, sie hören uns singen. Wahrscheinlich aber nicht. Die Musik am Karussell ist zu laut. Und es spielt auch eine Band.
Onkel Rafael hat auch in einer Band gespielt, Saxophon. Sein Saxophon liegt in einer Kiste unter Omas Bett. Als ich es einmal gefunden und angeschaut habe, hat Oma ganz komisch geguckt. Da habe ich es schnell wieder weggepackt. Später hat sie gesagt, ich darf ein Instrument lernen, wenn ich will. Auch Saxophon.
Ich bewege ganz langsam meine Finger, als ob sie auf die goldenen Tasten drücken. Dabei wackeln die grünen Spinnen auf meinen Handschuhen. Ich nenne sie Mister und Misses Spider. Sie unterhalten sich ganz leise auf englisch, so vornehm durch die Nase. Das klingt witzig und ich muss lachen. Zum Glück merkt es niemand. Wir stehen gerade auf und gehen nach vorn. Oma schärft mir immer ein, ich dürfte nur ein ganz klein bisschen nippen von dem Wein. Das bräuchte sie aber nicht, der ist nämlich ganz bitter. Und die Hostien schmecken nach gar nichts. Sie kleben nur immer so schrecklich am Gaumen.
Wenn der Priester sagt „das ist der Leib und das Blut Christi für dich gegeben“, dann höre ich immer weg oder ich zähle im Kopf ganz schnell bis zehn. Ich kann mir alles, was jemand sagt, ganz genau vorstellen. Deswegen habe ich im Schullandheim abends auch immer Angst, wenn die anderen Gruselgeschichten erzählen. Ich höre beim Abendmahl weg, weil ich keinen Toten essen will.
Morgen gehen wir auf den Friedhof. Ich mag es, wenn es dunkel wird und überall die Kerzen flackern. Echte Kerzen, nicht wie hier in der Kirche. Und die Blumen! Ein ganzes Meer aus Blumen. Sie duften so gut – als würden alle Vögel dieser Welt durcheinander zwitschern. Mama hasst die Blumen. Nicht alle, aber die abgeschnittenen. Sie nennt sie „tote Blumen“, weil sie keine Wurzeln mehr haben und verwelken müssen. Ich finde das aber nicht schlimm. Alles, was lebt, muss mal verwelken, haben wir in der Schule gelernt: Der Kreislauf des Lebens.
Oma sieht manchmal aus wie eine Blume, die man vergessen hat zu gießen. Aber wenn sie lacht, duftet sie wie die schönste Rose. Dann umarme ich sie und atme an ihrem Ohr ein, ganz tief. Wenn ich beim Ausatmen hinein puste, muss sie noch mehr lachen.
Wie lange dauert das jetzt noch? Sandra wartet draußen auf der Hüpfburg.