Motten
Eigentlich tötete sie keine Tiere. Aus Prinzip nicht.
Und wenn sich doch einmal eine Ameisenkolonie durch die Küche schlängelte, dann entschuldigte sie sich in Gedanken bei jedem Tier, bevor sie es zerdrückte.
Doch bei Motten war das anders. Die jagte sie unerbittlich.
Früher mit einer Zeitung oder dem Pantoffel.
Heute zerklatschte sie die Tierchen zwischen den bloßen Händen.
Mit Genuss.
Seltsam, dachte sie eines Tages, dass immer nur eine Motte zu sehen ist.
Nie zwei oder drei auf einmal.
Warum?
Handelte es sich bei Motten womöglich um eine intelligente Spezies, die einen Späher losschickte? Einen Späher, der dann nie zurückkam? So, wie die beiden ersten Königssöhne im Märchen?
Sie verlor sich da in romantischen Gedanken.
Nein, sie wollte ihren Hass auf die Tiere pflegen.
Dieses zarte Pflänzchen, das immer dann neue Nahrung bekam, wenn eine Motte langsam und ziellos durch den Lichtkegel der Küchenlampe irrte.
Sofort war es da, das Gefühl der Überlegenheit.
War es vielleicht sogar ein köstlicher Kick, Herrin über Leben und Tod zu sein? Über die restliche Lebenszeit dieses Tieres bestimmen zu können?
Ob Gott sich auch so fühlte?
Manchmal schlich sich dann doch Beschämung ein. Schließlich war es keine Heldentat, diese behäbig flatternden Tierchen zu fangen. Die schnelle Fliege hingegen hatte sie noch nie mit der bloßen Hand erwischt.
Vor kurzem war sie endlich dem Grund ihres Hasses auf die Spur gekommen:
Die Motten fraßen ihre Erinnerungen.
Köstlichkeiten, die sie sich mitgebracht hatte aus dem Urlaub, Reste eines fröhlichen Abends, Knabbereien aus dem Weihnachtspaket. Alles luftdicht verpackt. Und trotzdem entdeckte sie immer wieder diese feinen Fäden, die sie zwangen, genauer hinzuschauen. Oder lieber doch nicht. Denn dann sah sie, wie sich das Müsli bewegte. Mit Schaudern stellte sie sich vor, sie sei sehbehindert.
Neulich hatte sie das Regal aufgeräumt:
Teesorten aller Art, viele davon waren Geschenke. Gewürze, Backzutaten, eingemachte Heringe, Salzgebäck, Nüsse... und ganz hinten diese durchsichtige Plastikdose.
Sie konnte sich nicht erinnern, was darin aufbewahrt worden war. Das war auch nicht mehr zu erkennen. Oben ein dichtes, weißes Gewebe, in der Mitte eine weiße Masse sich windender Leiber, unten eine braune Kruste - der Rest von irgendetwas.
Sie traute sich nicht, diesen Staat in Ruhe zu betrachten. Wohin damit?
Der Müll würde erst nächste Woche wieder abgeholt.
In Panik rannte sie auf die Terrasse und warf die Dose in den Fluss.
Sofort bekam sie ein schlechtes Gewissen.
Sie sprach jeden Jugendlichen an, der ein Papierchen fallen ließ oder seine Coladose nicht in den Abfalleimer warf. Lag eine zerknüllte Bäckertüte auf dem Boden, hob sie diese auf und lief extra einen Umweg, um sie zu entsorgen. Nicht, dass sie vor den anderen Passanten angeben wollte mit ihrer Tugend. Sie konnte einfach nicht daran vorbeigehen. Wie die Goldmarie hörte sie die Weggeworfene rufen: "Heb' mich auf, ach, heb' mich auf...!" Insgeheim aber hoffte sie doch auf den einen oder anderen anerkennenden Blick.
Sie sah der davonschwimmenden Plastikdose mit dem lila Deckel nach.
Würde sie oben bleiben - für alle sichtbar?
Was denken die Würmer?
Dringt Wasser ein?
Trinkt ein Wurm eigentlich etwas?
Und kann er er-trinken?
Erst spät wunderte sie sich über die Menge an Leben, die aus solch einem winzigen Nahrungsmittelrest entstanden war.
So ähnlich musste wohl die Welt aussehen, wenn man sie aus einer anderen Perspektive betrachtete.
Ob uns wohl auch einer weggeworfen hat?
Angewidert ins All geschleudert?
Und wo treiben wir hin?