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Rotkäppchen

Man nannte sie Rotkäppchen.

Wenn Rotkäppchen im Bus mitfuhr, war immer etwas los.

Schon beim Einsteigen hielt sie Ausschau, ob jemand auf dem Behindertenplatz saß. 

Auch heute.

BINGO!

Rotkäppchen baute sich vor der jungen Frau auf. 

Diese beachtete sie zunächst nicht.

Ein Fehler.

Die kleine alte Frau mit der großen alten Brille,

dem dunkelgrünen Mantel und der roten Kappe brüllte:

"HEEEEEEE!"

Sie klang wie der Räuberhauptmann Mattis, der an der Schlucht steht 

und die feindlichen Borkaräuber auf dem gegenüberliegenden Felsen

zum Kampf herausfordert.

"HEEEEE!"

Alle waren zusammengezuckt.

Manche - die Rotkäppchen noch nicht kannten - schauten erschrocken.

Die anderen guckten belustigt, erwartungsvoll, vorfreudig.

Rotkäppchen machte eine herrische Bewegung mit dem Kinn.

Dann ließ sie sich - sichtlich befriedigt - auf den Sitz fallen, den die junge Frau eilends geräumt hatte.

Jemand wagte einen langen Blick auf die kleine Frau mit der großen Stimme.

"GLOTZ' NICHT SO BLÖD!"

Schauspielerin musste sie gewesen sein. Oder Opernsängerin.

Dies war ihre Bühne und sie unterhielt ihr Publikum hervorragend.

Der ganze Bus schien den Atem anzuhalten.

Was würde als nächstes passieren?

Sie enttäuschte uns nicht.

"Zwiebelchen für's Lieselchen!" kicherte sie vor sich hin.

Und dann hob sie an zu singen:

"LAURENTIA, LIEBE LAURENTIA MEIN, 

WANN WERDEN WIR WIEDER BEISAMMEN SEIN?

AM MO-HON-TAG!"

Von vorn stimmte eine tiefe Bassstimme ein.

Der Busfahrer und Rotkäppchen sangen aus voller Kehle:

"ACH WENN ES DOCH ALLEZEIT MONTAG WÄR, UND ICH BEI MEINER LAURENTIA WÄR - LAURENTIA WÄR!"

Die Dienstag-Strophe sangen schon einige Leute mehr mit.

Beim Mittwoch traute auch ich mich. 

Beim Freitag musste ich leider aussteigen.

Irgendwann werde ich so alt wie Rotkäppchen sein.

Und brüllen.

Und singen.

Und laut lachen.

Bestimmt.