Der kleine Drache Dorian
Jeden Abend brachte Großvater Dorian ins Bett.
„Großvater, erzähl‘ mir eine Geschichte!“
Dorian liebte es, seinem Großvater zuzuhören.
Meistens handelten Großvaters Geschichten von früher.
Früher war Großvater ein junger Drache:
Jung und groß und stark.
Und er erlebte viele Abenteuer:
Spannende und gruselige und aufregende.
Und er war immer ein Held:
Tapfer und mutig und siegreich.
Dorian war nicht tapfer.
Nicht mutig.
Und vor allem nicht siegreich.
Immer war Felix besser als er.
Felix, sein älterer Bruder.
Jeden Tag kam Felix strahlend nach Hause:
„Ich war heute wieder der beste im Feuerspucken!“
Wenn Mama und Papa Felix dann lobten, hätte sich Dorian am liebsten hinter dem Ofen verkrochen. Denn er wusste, welche Frage gleich kommen würde:
„Und, Dorian – wie war es bei dir?“
Bei dieser Frage kam sich Dorian jedes Mal dumm vor.
Gerade musste er daran denken, wie sie neulich in der Schule alle nebeneinander standen: „Gefährlich fauchen!“ hatte Frau Zieselwetter gesagt. Doch als Dorian an der Reihe war, kam nur ein klägliches „Chch...“heraus.
Alle lachten.
Ihm wird es jetzt noch ganz heiß, wenn er daran denkt.
Papa kann er so etwas nicht erzählen. „Jammer‘ nicht rum!“ sagt der dann, oder: „Streng‘ dich halt mehr an!“, „Ein Drache weint nicht!“ oder: „Beiß‘ die Zähne zusammen!“
Mama nahm ihn eher in den Arm.
Aber auch das half manchmal nicht.
Er wollte auch groß sein.
Und stark.
Und gefährlich.
Mama sagte dann: „Du bist gut so, wie du bist!“ oder: „Such‘ dir einen Freund!“
Am besten konnte Dorian mit Großvater über seine Fragen reden. Großvater sagte meistens nichts. Oder jedenfalls nicht gleich. Es konnte sein, dass die Antwort ein paar Tage später kam, wenn sie zum Beispiel gemeinsam Brennholz sägten.
„Du wirst schon noch herausfinden, was du gut kannst. Warte nur ab!“
Missmutig zog Dorian an der Säge.
Warten?! Pah!
Großvater wusste also auch keinen Rat. Er wollte ihn nur vertrösten.
Dorian ist aufgeregt.
Sie werden mit der Klasse wegfahren. Mit übernachten!
Er packt seinen Rucksack.
Das neue Taschenmesser muss mit. Und die Taschenlampe. Und sein Kuscheltier. Oder? Würden die anderen auch ein Kuscheltier dabei haben?
Endlich ist es soweit.
Auf ihrer langen Wanderung sammeln die kleinen Drachen Feuerholz. Am Abend wird es ein großes Lagerfeuer geben.
Schließlich ist das Holz aufgeschichtet.
Alle haben sich im Kreis darum versammelt.
„Und nun soll jeder von euch versuchen, Feuer zu spucken!“ sagt Frau Zieselwetter. Reihum spucken die Drachen kleinere und größere Flämmchen. An manchen Stellen fängt das trockene Reisig schon Feuer und beginnt zu knistern.
Jetzt ist Dorian an der Reihe. Er spürt alle Augen auf sich gerichtet.
Dorian holt tiiiief Luft, er pustet und prustet und – - - ein Strahl Wasser ergießt sich in die Glut.
Es zischt leise.
Alle lachen.
„Dorian!“ Frau Kieselwetter funkelt ihn böse an. „Wieso machst du die Arbeit der anderen kaputt?! Wir wollen das Feuer entzünden – und nicht löschen!!!“
Dorian fühlt sich ganz klein.
Gut, dass es schon fast dunkel ist. So sieht niemand seine Tränen. Fast niemand.
„Mach‘ dir nichts draus“, flüstert Lisbeth, „ich fand‘s klasse!“ Das ist nett, aber Dorian dreht sich um und kickt einen Stein in die Dunkelheit.
Er hockt sich ein Stück entfernt von den anderen unter einen Baum.
Die anderen singen jetzt am Lagerfeuer.
Pah! Dorian spuckt aus. Er weiß nicht, ob er mehr traurig ist oder mehr wütend.
Mit den Pfoten schiebt er Tannennadeln zusammen. Sie bedecken den Waldboden wie ein pieksiger Teppich. Dorian zerknickt einzelne der trockenen Nadeln. Es riecht gut.
Jetzt gibt es bei den anderen Stockbrot.
Dorian sieht, wie Frau Zieselwetter allen Drachenkindern den Teig um ihre Stöcke wickelt. Sie ist sehr beschäftigt, viele müssen warten.
Und Dorian sieht noch etwas: Max und Mona, die eben noch mit ihren Stöcken einen Fechtkampf ausgetragen haben, stochern jetzt damit im Feuer herum. Lachend halten sie die glühenden Spitzen in den Nachthimmel. Es sieht aus, als hielten sie Riesenstreichhölzer in der Hand.
Dorian senkt den Blick und malt Muster in die Tannennadeln.
Plötzlich hört er lautes Geschrei: Frau Zieselwetter rennt zum Waldrand. Dort züngeln Flammen auf dem Boden. Immer weiter breiten sie sich aus. Frau Zieselwetter springt wie verrückt hin und her und versucht, die Flammen auszutreten. Aber sie schafft es nicht. Lustig sieht es aus, wie die Lehrerin so aufgeregt herumhüpft. Aber Dorian lacht nicht. Er spürt: Es ist ernst!
Die anderen kleinen Drachen aus seiner Klasse stehen wie erstarrt da. Dorian springt auf, rennt zu seiner Lehrerin, die in all dem Qualm nur noch undeutlich zu erkennen ist. Flammen züngeln überall herum. Dorian kneift die Augen zusammen, holt tief Luft und – aus seinem Drachenmaul schießt ein starker Wasserstrahl wie aus dem Schlauch einer Feuerwehr.
Es zischt laut.
Dann ist es still.
Niemand lacht.
Dorian blinzelt und öffnet langsam die Augen.
Frau Zieselwetter ist pitschnass. Wasser tropft aus ihren Haaren. Aber sie lächelt. „Danke, Dorian! Das war Rettung in letzter Sekunde!“
Beifall brandet auf. Seine Klasse applaudiert ihm?
„Man könnte Dorian ab heute auch Florian nennen!“ verkündet Frau Zieselwetter. Die kleinen Drachen gucken verständnislos. Darum erklärt ihnen Frau Zieselwetter, dass der Heilige Sankt Florian der Schutzpatron der Feuerwehrleute ist.
„Großvater, heute erzähle ich DIR eine Geschichte!“ sagt Dorian, als er wieder zu Hause ist.